Die Schreitenden von Liebenau oder über die Verborgenheit der Gesundheit

 Passagen über ein Skulpturen Ensemble von K. Landa & A. Rauschmann. Von JMH Schindele

 

 

Treten wir zum Verwaltungsgebäude der Stiftung Liebenau. Begeben wir uns in eine Situation: 3 Figuren, sichtbar, vor uns, eine Gruppe. Drei menschliche Bronzen,

die Drei in Liebenau. Sie sind mit uns und doch in einer ihnen eigenen Nebenwelt. In dieser vollziehen sie eine Handlung, vieldeutig und verborgen, klar und human.

Im Folgenden einige Ansätze und Passagen zu den Schreitenden von Liebenau.

 

Eine Handlung dreier menschlicher Figuren, auf ewig festgehalten, in einem komplexen Verfahren aus digitalen Scans und Drucken, Ausgieß- und Abgießprozessen und dem Abschmelzen des Wachses durch Bronze. Eine magische und symbolische Situation in einem zentralen Durchgangsraum. Ein möglicher Moment in der Vergangenheit, längst flüchtig und vergessen. Zeit legiert im schwarzem Metall.

 

Wir nähern uns dem Gebäude und erblicken noch draußen die erste Figur. Unmittelbar sichtbar für den oder die Kommenden. Dem Besucher abgewandt,

grüßt sie nicht und spricht doch eine Einladung. Unser Blick, neugieriges Auge, erkennt sie vornübergebeugt. Die weibliche Figur tut etwas noch Verborgenes.

Überdacht vom Gebäude trennt sie eine feine Linie aus Glas vom Innenraum. In diesem halten sich zwei weitere Schreitende auf. Ein Mann und eine Frau.

 

Alle drei tragen Symbole, ja sind selbst Symbole und als diese zu lesen. Eine Pflanze, eine Muschel; der männliche Träger geblendet durch eine Binde aus Gold.

 

Es ist der Moment einer Performance, eine Handlung. Ein Photo wurde geschossen; eine Umgebung gegeben. Drei Wandelnde die auf Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit hinstreben.Vielleicht frohe Botschafter.

 

Ein Band aus polierter Bronze. Durch ihre Körperhaltung drückt die Figur aus, dass sie nicht sehen kann, sie öffnet die rechte Hand, um die der anderen Figur zu greifen, berührt diese jedoch nicht. Die zweite Figur strebt zur Glaswand, greift jedoch mit ihrer linken Hand nach der ersten hinter sich, möchte diese hinaus durch

das Glas führen. Strebend zu jener Dritten die im Begriff ist eine Aloe-Vera Pflanze zu pflanzen.

 

Bedürftigkeit lässt sich in der Figur des Mannes erkennen. Begleitend geleitet, wird sie durch die weibliche Figur die in diesem Schauspiel insbesondere durch verantwortungs-übernehmende Eigenschaften ausgezeichnet ist. Sie weist auf und personifiziert symbolisch alle Menschen die durch ihre Arbeit Pflege und Hilfe ermöglichen.

 

In ihrer Rechten trägt jene Repräsentantin eine Muschel, die die Stiftung symbolisiert. Schutz und Höhle, Institution und Struktur. Getragen vom Einsatz

aller Hände und Lächeln die uns in einem beinahe symbolischen Realismus begegnen.

 

In der Beziehung des Geblendeten und der ihn führenden Frau erleben wir eine therapeutische Situation. Erkennen Vertrauen, Integration und das Verwachsen im ewig gemeinsamen Ritual des Helfens.

 

Die Personifikation der Hilfe selbst ist jene Figur, die die Muschel, dieses schützende Haus eines fragilen Körpers, bei sich trägt. Sie ist eine schreitende, helfende und gesundete Ninfa Fiorentina. Strebend nach Draußen, strebend zu einem Zeitpunkt an dem die Gesundheit entschleiert und für den die heilende und widerständige Aloe-Vera-Pflanze in unserer Mitte gepflanzt ist.

 

Die Schreitenden von Liebenau sind eine perennierende Aufführung, eines ephemeren Momentes. Dauer und Bewegung sind zusammengefasst.

Und wir? Wir, Besucher und Zeugen eines sich ewig fortsetzenden Schauspiels.

 

2. Teil

 

Augenmuschel, Hörmuschel, Sehenkönnen, Riechenkönnen, Hörenkönnen. Die Skulpturen sind Symbole und tragen Symbole mit sich. Sie stehen für sich, haben individuelle Züge und sind doch pars pro toto für viele und vieles gemeint. In ihren Beziehungen zu uns und untereinander erklären sie im

mikroskopisch-symbolischen Gehalt die Gesellschaft und die Aufgabe der Stiftung Liebenau.

 

Sie sprechen jenes Grund- und Einverständnis, jene Klarheit, das Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor allererst Partner sind. Gemeinsam sind sie die wirkende und therapeutische Kraft. Ihre Freiheit richten sie auf jene, die besonderer Unterstützung bedürfen. Auf Augenhöhe, ohne Sockel. Ich-und-Du.

 

Das Skulpturen Ensemble aus Dreien, geschaffen von Zweien, geht über sich hinaus. Es deutet auf die Zeit und die Situation, auf das eigene Materiesein und auf die Erfahrung der Begegnung auf Augenhöhe mit den schwarz-polierten, vielleicht frohen, Botschaftern und symbolischen Vermittlern.

 

Der Kunsthistoriker mag sagen, wir treffen hier auf eine Antwort auf die alte Frage der noch jungen Performance Kunst: Wie halte ich das Flüchtige, den zerrinnen Punkt? Wie halte ich das fest, was in der Zeit und in der Bewegung ist? Wie den Körper im Raum? Ohne zu erstarren.

 

Die Tätigkeit der Figuren und die auf mehreren Ebenen stattfindenden Beziehungen sind allesamt in Bewegung. Sie tanzen geradezu. Integrationsprozess, Dreier- und Zweierbeziehungen auf unterschiedlichen [Zeit]Levels, verschränkte kunsttheoretischen Fragestellungen, Figuren in Aktion, Repräsentanten imaginärer Zeitpunkte in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Dazu gemischt eine funktionierende archetypisch-anmutende Auswahl attribuierender Objekte. Zeichenhafte Gebilde und Wesen.

 

Diese stehen in der Zeit und in der Sprache. In unserer Phantasie und unserer Logik. In unserer Neugier und Erfahrung sind sie immer und immer wieder hermeneutisch zu umkreisen. Man möchte sagen sie sind lebendig.

 

So, und sicherlich anders, lässt sich die Arbeit von Landa und Rauschmann umreißen. Doch das Bemerkenswerte dieses balancierten und stimmigen, süsslich und umarmenden, komplexen und enigmatischen und doch eindeutigen Ensembles klassischer Skulptur ist seine höher-strebende Kraft zur

Synthese: Alles Zeichenhafte, das sprießende Spiel aus Andeutungen und Bewegung gehen im Reigen in einem lebendigen Ganzen auf.

Keine postmoderne Prothese, sondern erzeugter und gespiegelter Sinn. Paganes und Christliches, Urmütterliches und Gesetz sind zusammen-verwachsene Einheit aus dem Stoff einer Vielzahl von Symbolen.

 

Die nahbar sind. Das muss betont sein.

 

JMH Schindele, Berlin, Mai 2018